von Nils Berliner
„Ägypten befindet sich seit der Januarrevolution von 2011 in einer Umbruchphase, die wiederholt zu Demonstrationen und gewaltsamen Auseinandersetzungen geführt hat.
[…]
In Kairo kam es in jüngster Zeit regelmäßig zu sicherheitsrelevanten Vorfällen (Bombenexplosionen, Anschläge etc.). Teilweise wurden Anschläge durch die Sicherheitsbehörden vereitelt. […]“
-Reise- und Sicherheitshinweise des Auswärtigen Amtes
Da mein Studium ein Praxismodul (in meinem Fall ein vierwöchiger Sprachkurs im Ausland) und das Studium meiner Freundin ein vierwöchiges Praktikum in einer Tierklinik verlangt, kam in uns kurzentschlossen die Idee auf, warum nicht gemeinsam machen und mit einem Urlaub verbinden.
So fix wie diese Idee kam, so schnell waren wir, nach einer gewissen Zeit der Beschwichtigung von Eltern und anderen Verwandten, auch schon in Kairo.
Was die Beschwichtigung angeht, hielt sie sich doch ziemlich in Grenzen. Natürlich, wenn man sich studienbedingt nahezu täglich mit den Konflikten im Nahen Osten beschäftigt, kommt einem selbst der Ausflug nach Kairo wie ein sicheres Feriendomizil vor, was es rein statistisch ja nun auch wirklich ist.
Was einen dann doch wundern lässt, dass Verwandte bei so einem vergleichsweise sicheren Gebiet zögern und das Auswärtige Amt auch jammert, aber natürlich gibt es im Vergleich zu Malle ein kleines Restrisiko.
Eine der ersten Feststellungen, die man in Kairo macht, ist der nur kaum merkliche Tag-Nacht-Rhythmus. Ich war schon in einigen Städten von denen man sagt, dass sie niemals schlafen. Ich musste in Kairo feststellen,dass es in keiner Stadt so gestimmt hat wie in dieser. Da ich vor zwei Jahren aus privaten Gründen von Berlin nach München gezogen bin (ja, dieses München, in dem Geschäfte dazu verpflichtet sind um 20:00 (!!!) Uhr zu schließen) war dies doch erst eine sehr positive, bei den Versuchen zu schlafen, eine negative Erfahrung.
Zum Glück wurde aufgrund der veränderten Sicherheitslage und dem Einsetzen eines neuen Innenministers unsere Straße, in der sich auch das Innenministerium befand, nachts komplett gesperrt. Weshalb wir nur noch von den Vorteilen des fehlenden Tag-Nacht-Rhythmus profitierten.
Kairo ist eine wirklich vielseitige und spannende Stadt, wenn man sich für Kultur und für Essen interessiert: sprich, für wahrscheinlich alle Leser*innen dieses Blogs.
An jeder Ecke gibt es Moscheen, Synagogen oder Kirchen. Man kann die historische Toleranz alter islamischer Kulturen sowohl in dem Verhältnis zu diesen symbolischen Gebäuden, als auch im Umgang mit Fremden und anderen Lebensweisen spüren. Wie wir wissen, befindet sich Ägypten zur Zeit im Umbruch und trotz der historischen Verantwortung der westlichen Staaten (Deutschland eingeschlossen), begegnete man uns stets freundlich und aufgeschlossen. Meine Lehrerinnen wiesen mich gleich darauf hin, wo die nächsten (für mich vermeintlich wichtigen) Kirchen sind und eindeutig muslimische Menschen auf der Straße zeigten uns scheinbar vorbehaltslos, wo es die nächste „Quelle“ für Alkohol gibt.
Ich muss zugeben, dass wir im Voraus einige Sicherheitsvorkehrungen getroffen hatten, wir haben uns „Fake“-Eheringe gekauft und ich habe nie erwähnt, dass ich Atheist (im Gegensatz zu Christ*innen und Jüd*innen kenne ich wenige Koraninterpretationen, nach denen Atheist*innen explizit als schützenswert beschrieben werden) bin. Ob diese wirklich nötig waren, mag ich im Nachhinein stark zu bezweifeln. Kairo, sowie alle Kairaner und Kairanerinnen, die ich treffen durfte, wirkten doch sehr weltoffen und tolerant.
Neben den beeindruckenden religiösen Bauten und Monumenten, spielen die antiken und pharaonischen Zeugnisse natürlich eine große Rolle. Ein Dozent von mir benutzt manchmal die eigene Wortkreation „Quellenhorizont“. Damit meint er, wie weit man durch einen bestimmten Punkt mithilfe der Quellen in die Vergangenheit reisen kann oder weniger poetisch, wie alt das Betrachtete ist.
Wenn wir zum Beispiel im Lustgarten in Berlin stehen, ist unser Quellenhorizont ein paar hundert Jahre alt. Wenn wir uns eine Woche durch Berlin bewegen, wird sich dieser wahrgenommene Horizont kaum verändern. In fünf Wochen Kairo jedoch, verändert sich dieser Horizont ständig und das in einem Bereich, der bis zu fast fünftausend Jahren reichen kann, was doch sehr beeindruckend ist, wenn man sich darauf einlässt. Diese vielen kulturellen Einflüsse, von denen diese Bauwerke zeugen, machen diese Stadt überaus faszinierend.
Um diese Schätze herum ist eine Großstadt, die ich als wesentlich lebendiger, als zum Beispiel Barcelona, London, Paris, Tel Aviv oder Berlin, wahrgenommen habe. Eine Stadt, die mir als geborenem Stadtkind ab und an doch zu viel Stadt wurde und mir kleine Pausen in einem der zahlreichen Kaffeehäuser oder der einzigen Grünanlage (dem Al-Azhar Park) ganz gut taten.
Die Kaffeehäuser in Kairo sind eh ein wunderbarer Ort. In eigentlich jeder Straße gibt es mindestens eins. Den ganzen Tag sitzen hier Menschen und trinken Kaffee oder Tee und rauchen Šīša (dt. häufig auch Schischa oder Shisha). Die Šīša hatte in Ägypten lange Zeit ein Alt-Herren-Image. Durch das Aufkommen von Tabak mit Geschmack findet sie jedoch inzwischen in allen Bevölkerungsgruppen großen Anklang.
Sie ist in jedem Fall ein Bestandteil der arabischen Kultur, wie Bier in Bayern oder Espresso in Italien sollte man sich auch dieses Kulturgut (natürlich in Maßen) nicht entgehen lassen, auch wenn die Wasserpfeife ohne Geschmack wahrscheinlich eher etwas für geübte Raucher*innen ist.
Kaffee ist in Ägypten generell Türkischer Kaffee, sehr stark und sollte mit Zucker getrunken werden. Im Arabischen gibt es drei verschiedene Bezeichnungen für Kaffee: ohne Zucker, mit ein wenig Zucker und viel Zucker. Wenn man nun nur einen Kaffee bestellt, wird man hier meist unverstanden angeschaut und wegen der Zuckermenge noch einmal explizit nachgefragt, so unterschiedlich sind in der arabischen Sprache die Bezeichnungen für Kaffee.
Zu kochen braucht man in Kairo eher nicht. Überall gibt es Stände mit Falāfil-, Ful Madammas- (eine Paste aus Saubohnen) oder Auberginensandwiches.
Auch Kufta (türk. Köfte) sind spätestens seit der osmanischen Eroberung Ägyptens ein beliebter Snack.
Tagsüber stehen in den Seitenstraßen Holzkohlegrills, auf denen ganze Hähnchen oder Šīš Tāwūq zubereitet und anschließend verkauft werden. Eines der verbreitetsten und gleichzeitig häufig als Nationalgericht bezeichnete Speise, ist Kušarī. Ein Gericht aus Nudeln, Linsen, manchmal mit Kirchererbsen und/oder Reis. Alles mit einer Soße, die nach Geschmack sehr scharf sein kann. In Hinblick auf diesen Blog habe ich meine Sprachlehrerin nach einem Rezept gefragt, diese antwortete mir, dass sie das Gericht sehr mag, dass es unter Kairaner*innen allerdings wenig verbreitet ist Kušarī selbst zu machen, da die Zubereitung sehr aufwendig ist und man es in Kairo wirklich fast überall sehr günstig fertig bekommt. Eine mittlere Portion (die mich mehr als satt gemacht hat) kostet im Schnellrestaurant umgerechnet etwas mehr als einen Euro.
Trotzdem findet ihr ein authentisches Rezept hier.
Neben dieser historischen Kunst, passiert in Kairo kulturell zur Zeit ziemlich viel und die Stadt entwickelt sich zu einem globalen Hotspot der Kunstszene. Politische Konflikte und autoritäre Herrscher gebären meist künstlerische Strömungen. Denken wir zum Beispiel an Pussy Riot in Russland, Ai Weiwei in China oder auch Bertold Brecht im Nationalsozialistischen Deutschland.
An vielen Ecken lassen sich Graffiti bestaunen, in einer Qualität, die man in Deutschland nur selten sieht. Natürlich, die
politische Not, aus der sie entstehen, ist eine ganz andere.
Falls ihr euch für die musikalische Entwicklung in den Revolutionsjahren von Kairo interessiert, kann ich euch den Film Electro Shaabi ans Herz legen. Auch wenn die portraitierte Band im heutigen Kairo eher als „Teenie-Band“ wahrgenommen wird, liegt ihre Entstehungsgeschichte genau in diesem Milieu des sich ändernden Kairos.
Festzuhalten bleibt, dass Kairo wohl nicht für einen Erholungsurlaub geeignet ist, jedoch sehr, wenn man sich für islamische, pharaonische, antike oder zeitgenössische Kunst des Nahen Ostens interessiert und auf der Suche nach einem relativ sicheren Reiseziel ist.
Ich gehe davon aus, dass wir in der Kunst-Szene in Zukunft noch eine Menge von dieser wahrlich pulsierenden und inspirierenden Stadt hören werden.
Auf Wiedersehen Kairo und M’a as-salām!
1996 unternahm ich eine Ägypten-Rundreise und war einige Tage in Kairo. Es war eine Zeit, in der die Touristenschiffe auf dem Nil vom Ufer aus beschossen wurden. Einen Tag nach unserem Besuch im Nationalmuseum in Kairo wurde auf dem Parkplatz ein griechischer Reisebus in die Luft gejagt. Aber diese Bedrohungen kamen mir und meinen Mitreisenden nicht so vor, sondern wir fühlten uns eher beklommen durch die große Militär- und Polizeipräsenz.
Bist Du auch mit Sammeltaxis gefahren? Das fand ich herrlich! Unser Reiseleiter lud uns zu sich nach Hause ein, auch das war ein unglaubliches Erlebnis, eine große Familie in einer kleinen Wohnung, radebrechendes Englisch und die köstlichsten Orangen, die ich je gegessen habe.
Es ist in vielerlei Hinsicht traurig, dass der Tourismus eingebrochen ist. Neben der prekären Lage der Ägypter entgehen allen, die sich das nicht ansehen, diese wundervollen, unglaublichen und verblüffenden kulturellen Schätze. Ich habe Kairo auch damals als sehr tolerant erlebt, großstädtisch, in der alle Religionen miteinander lebten. Ich sah verschleierte Frauen und Frauen im Minirock, ähnlich wie in Istanbul kurz darauf. Ein Jammer und ein Rückschritt, das wieder zu verlieren.
Danke also für diesen Artikel!